anordnen/verschieben (Ein Kammertanztheater) (2004)

Choreographie: Martin Nachbar

Besetzung: 1 Holzblasinstrument (Flöte oder Klarinette mit Nebeninstrumenten), 1 Blechblasinstrument (Horn, Trompete oder Posaune), 1 Schlagzeuger, 2 Streicher (Viola oder Violoncello und Kontrabass) / Drei Tänzer

Verlag: Schott Music

Dauer: 29 Minuten

UA: 7.10.2004, Dresden (Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik)
Sibylle Müller, Felix Marchand, Kay Grothusen, Tanz
Bettina Preusker, Flöten – Robert VanRyne, Trompete/Flügelhorn – Ulrich Grafe, Schlagzeug – Matthias Lorenz, Violoncello – Michael Haves, Kontrabaß

Weitere Aufführungen:

10.10.04, Chemnitz
15.10.04, Leipzig

Auftragswerk des Sächsischen Musikrates

Werkeinführung:

anordnen/verschieben ist das (erste) Ergebnis eines Denk- und Arbeitsprozesses, dessen Anfang bereits einige Jahre zurückliegt. Mitte 2001 wurde ich von der Akademie der Künste Berlin eingeladen, an der Akademie Choreographen und Komponisten teilzunehmen, die Anfang 2002 stattfand und in der jeweils vier Choreographen und Komponisten der jüngeren Generation die Möglichkeit hatten, mit einer Gruppe von Tänzern und Instrumentalisten zehn Tage improvisatorisch zusammenzuarbeiten, die Gedanken- und Ausdruckswelt und die Arbeitstechniken der anderen Seite kennenzulernen. Bereits in der Vorbereitung dieser Akademie, bei der ich zahlreiche wichtige Eindrücke und Ideen für meine kompositorische Arbeit empfing, entstand der Plan, auf der Basis dieser Erfahrungen ein Tanztheaterstück zu entwickeln. Mit Martin Nachbar hatte ich dort zudem einen Choreographen kennengelernt, bei dem sich vom ersten Moment an große Gemeinsamkeiten der künstlerischen Vorstellungen und Arbeitsweisen herausstellten.

In der Erarbeitung des Stückes hielten sich getrennte und gemeinsame Phasen die Waage. Vorab festgelegt wurde eine für Musik wie Tanz verbindliche Form von sieben Teilen, die im Dauernverhältnis 2 : 3 : 5 : 7 : 11 : 13 : 17 stehen und die „Themen“ Improvisation – Elevation – Pathos – Solo – Punkte/Verzögerung – Murmeln – Wiederholung/Loops behandeln sollten.
In den ersten Arbeitsphasen wurden dann die hierzu von Komponist und Choreograph vorab skizzierten Materialien zunächst parallel entwickelt und dann neu kombiniert, denn das Ziel war von Anfang an ein Ablauf, bei dem in jeder Aufführung die Reihenfolge der Teile wechselt und die Tanz- und die Musikebene zudem unterschiedliche Reihenfolgen haben.

Aufgrund der Dauernverhältnisse besteht dabei allerdings immer auch die Möglichkeit, daß gemeinsam entwickelte Abschnitte ganz oder teilweise auch gleichzeitig aufgeführt werden. Es entsteht ein Netzwerk aus geplanten und ungeplanten Kontrasten und Binnenbeziehungen: Die Interpretationen der „Reizwörter“, die den Teilen zugrundeliegen, sind in Musik und Tanz jeweils unterschiedlich, aber dennoch eng aufeinander bezogen. Ihre Neukombination kann überraschende Verbindungen herstellen, aber auch Widersprüche offenbaren. Die Sichtweise des Publikums, in der die beiden Ebenen ja eher gemeinsam als getrennt wahrgenommen werden, trägt zur Intensität der Wahrnehmung bei. Im ganzen entwickelt sich so eine Kommunikationsdichte, die das Nebeneinander der beiden Ausdrucksformen, das in vielen Werken klassischen wie modernen Tanzes bestehen bleibt, zu überwinden helfen soll.

Die Musik, die auf reduzierten, effizienten Improvisations- und Spielanweisungen basiert und einen großen Anteil klugen und verantwortungsbewußten Mitgestaltens durch die Instrumentalisten erfordert, enthält sowohl Abschnitte mit klarer, vergleichsweise einfacher als auch solche mit komplexerer Gestik. Improvisation ist – wie im Tanz – ein kurzer Moment „totaler Freiheit“ ohne jede Vorgabe (!). Elevation versucht, mit brüchigen Flageolettklängen, extrem verlängertem Bogen und Atem, den Moment der Schwerelosigkeit im Tanz nachzuzeichnen. Pathos ist ein dunkler, „heroischer“ Tremoloklang mit ständigem dynamischem Auf und Ab. Solo beschränkt sich nicht allein auf ein einzelnes Instrument, sondern innerhalb dieses Materials noch dazu auf jeweils sehr karge Gesten. Punkte/Verzögerung ist ein intrikates Spiel mit gemeinsamen Einsätzen, die präzise, aber auch verwackelt erscheinen können, aus denen zuweilen kleine Impulsketten abbröckeln, und langen, spannungsvollen Pausen. Murmeln nimmt sich sehr viel Zeit, um eine Fläche aus verwaschenen, beinahe leiernden, endlosen Ton- und Geräuschfolgen zu entwickeln, die bei aller äußeren Statik innerlich belebt ist und wie ein Lavastrom durch den Raum quillt. Wiederholung/Loops schließlich kombiniert Aspekte aus den anderen Teilen mit neuem Material, es ist der längste und komplizierteste Teil und zugleich der einzige, in dem die fünf Instrumentalschichten – die jeweils sieben Elemente (Klang und Pausen) in freier Reihenfolge zu spielen haben – voneinander unabhängig agieren. Hier findet sich also das formale Konzept des Gesamtstückes im Kleinen nochmals wieder.

Zur Choreographie:

Als mich Benjamin Schweitzer einlud, mit ihm an einem Projekt für Musik und Tanz zu arbeiten, interessierte mich vor allem die im freien Tanz unübliche, weil meist unbezahlbare Möglichkeit, mit einem Komponisten, Musikern und Tänzern gemeinsam ein Stück zu erarbeiten. Dass dabei Tanz und Musik gleichwertig an der Entstehung beteiligt sein sollten, war von vorneherein klar, hatten wir uns doch in der Akademie Choreographen und Komponisten der Akademie der Künste in Berlin kennengelernt, wo wir eine kurze, aber äußerst fruchtbare Zusammenarbeit erlebt hatten. anordnen/verschieben ist für mich das (hoffentlich nicht letzte) Ergebnis eines Prozesses, in dem Musik und Tanz gemeinsam nachgedacht und gearbeitet haben. Die gewählte Form der Improvisation erlaubt es, diesen Prozess bis auf die Bühne zu verlängern, wo Musiker und Tänzer das gemeinsam Erarbeitete weitergestalten und womöglich zu neuen Lösungen finden.

Der Tanz bearbeitet die „Reizwörter“ im Spannungsfeld zwischen fest choreographierter Bewegung und völlig freier Bewegungsimprovisation. Dafür wurden für jeden Teil gemeinsam mit den Tänzern Regeln erarbeitet, auch Scores genannt, die das tänzerische sowie szenische Potenzial der jeweiligen Themen untersuchen und den Akteuren Gestaltungsmöglichkeiten für diese Untersuchung geben. Improvisation ist, wie in der Musik, ein kurzer Moment absoluter Freiheit – es geht um die eigentlich unmögliche Zielvorgabe, innerhalb einer Minute live und tanzend einen Score zu erarbeiten, der von allen drei Tänzern verstanden wird, ohne dass je die Zeit wäre, ihn auch wirklich umzusetzen. In Elevation geht es um eines der grundlegenden Elemente im Tanz, die Schwerkraft und deren Überwindung. Diese allerdings nicht im Sprung, sondern im Gegenteil, nahe am Boden: Zwei Tänzer versuchen, durch eine einfache Rollübung die Illusion von Schwerelosigkeit zu erzeugen, während der dritte Tänzer seinen Blick in den Himmel richtet. Pathos bearbeitet die dem Sprung gegenläufige, aber auch der Schwerkraft verbundene Bewegung des Fallens, das in all seiner Einfachheit größtes Pathospotential besitzt. Gleichzeitig verstrickt dieser Teil einen Tänzer und die Tänzerin in eine der klassischen Pathosformeln nicht nur des Tanztheaters, das Paar. Solo ist, der Musik ähnlich, nicht nur die Konzentration auf einen Tänzer, sondern auch auf eine einzige Bewegungsqualität. In Punkte/Verzögerung arbeiten die drei Tänzer mit einem wichtigen Element der Tanzimprovisation, dem Impuls. Durch dessen ständiges Verzögern erreichen die Körper eine spannungsvolle Dichte, die sich in den Raum zwischen ihnen überträgt und sich in vier kurzen, gemeinsamen Bewegungen gleichsam entlädt. Murmeln versucht den endlosen Ton- und Geräuschfolgen der Musik nachzugehen, jedoch ohne diese zu vertanzen. Die drei Tänzer folgen einander, bleiben aber auch stehen und entwickeln so ein Raumköprerarchitektur, in der sich das Murmeln der Tänzerkörper seinen Weg bahnt. Wiederholung/Loops schließlich befasst sich mit den Möglichkeiten, Bewegungsloops improvisatorisch zu entwerfen und von einander abzunehmen. Der Score erlaubt es einer Bewegunsfolge, sich wie ein Virus durch die drei Tänzer fortzupflanzen, wobei die Inkubationszeit für ihren „Ausbruch“ nicht unmittelbar nach oder neben der Originalbewegung liegen muss, sondern erst einige Minuten später auftauchen kann – Wiederholung.

Martin Nachbar